Akademische Feier 2020

Rede für die akademische Feier:

Sehr geehrte Lehrer*innen, liebe Eltern und liebe Schüler*innen,
Die Welt steht uns nun offen! Leider ganz im metaphorischen Sinne, wie ihr wisst.
Die Welt steht uns nun offen.

Ganz kurz will ich an dieser Stelle ein paar Lobe aussprechen:
Maxim, herzlichen Glückwunsch für die vier Fehlstunden im Zeugnis.
Ismail, herzlichen Glückwunsch für die 14 Punkte in Chemie.
Herzlichen Glückwunsch, Daniel. Du wurdest zum „Hübschesten Typen“ des Jahrgangs gewählt, da kann man schon mal stolz drauf sein.

Die Welt steht uns offen und was können wir aus diesem Jahrgang mitnehmen?
Wir sollten uns so sehr freuen wie Greta, wenn sie glücklich ist. Wir sollten uns so viel Mühe geben wie Niclas, wenn er Kunst macht oder backt. Wir sollten so sehr für unsere Meinung und Möglichkeiten kämpfen wie Su Naz.

Wir sollten den Mut haben, Fragen so offen zu stellen wie Qiana.
Wir sollten so entspannt sein wie Mateja, wenn er mit einem Kaffeebecher zwanzig Minuten zu spät kommt. Wir sollten mit so viel Herz an einem Thema interessiert sein wie Resad an Banlieues. Und so ehrgeizig sein wie Lea, wirklich, du hast dir durch deine Mühe so viel verdient. Du hast es geschafft und die Welt steht dir offen

Die Welt steht uns nun offen, aber: Wer wären wir heute, wenn wir nicht einmal von Frau Opel angeschrien worden sind oder mit Frau Hauser Salsa getanzt haben? Wer wären wir, wenn Herr Bunger uns nicht vor den Ferien immer die Hand geschüttelt hätte? Wer wären wir ohne Räuber und Gendarme, Schwammschlachten, Essensreste an den Wänden der Cafeteria und ohne Klassenbücher, die im Saturn neben der Playstation verloren gehen?

Goethe-Gymnasium bedeutet Herr Ernst mit seiner farbigen Kreide, Herr Kaballos plötzliches Lautwerden im Chor und „den IKEA-Roller runterholen“ sowie Kosta, der in der 5. Klasse „Knutschi knutschi“ sagt – ich lasse mal die Namen der zwei Lehrkräfte weg. Goethe-Gymnasium bedeutet, dass ich in der Quarantäne keinen „Sixpack“ oder eine „Hourglass Figure“ erreichen wollte, sondern so fit und dehnbar werden wollte wie Frau Baumeister. Goethe-Gymnasium bedeutet Frau Holmes Enthusiasmus und das Powercouple Forcher-Rodewald, das einem vermittelt, dass es okay ist, sich Zeit zu nehmen und dass wir unseren Weg finden werden.

Die Welt steht uns offen. Diese Schule hat uns bereits verschiedene Türen in die Welt geöffnet. Frankreich, England, Russland, Japan und Indien! Und aus den verschiedensten Türen sind wir und unsere Eltern hierher an diese Schule gekommen und ich habe mich immer sehr wohl dabei gefühlt, hinter all diese Türen lugen zu können und mit einem Taschentuch Halay im Foyer zu tanzen.

Aber die schönste Tür von allen war doch das Gartentor im Taunus,  der Weg über die Wiese und dann durch den Heizungskeller. Das Landheim in Oberreifenberg: Johannisbeer-Vanille-Tee, quietschende Betten, von denen man drei aufeinander stapeln konnte, Tischkicker-Turniere, die wildesten Partys und: „Gehen wir jetzt schon wieder wandern?“ – das haben wir damals lieben gelernt. Jetzt stehen wir hier mit unserem Abitur in der Tasche. Aber ganz ehrlich, alles was wir damals wollten, in der fünften, sechsten Klasse, war richtige Nutella im Landheim.

Damals waren wir kleine Würmer, jetzt sind wir gewachsen, aber fühlen uns immer noch nicht erwachsen. Jetzt sind wir hier und wir spüren: ein nervöses Kribbeln, Angst und Aufregung zugleich. Die Vorfreude vor dem Neubeginn: das Bekannte hinter uns lassen, „uns selbst finden“, andere Städte und Leute kennenlernen.

Genauso gut, kann es aber Angst machen, wenn man das Bekannte hinter sich lassen muss. Es kann Angst machen neue Städte und neue Menschen kennenlernen zu müssen. Bestimmt geht es vielen von euch so wie mir: Ich spüre wie die Unsicherheit hin und wieder in mich hineinkriecht, wenn ich an meine Zukunft denke. Will ich das wirklich mein ganzes Leben lang machen? Was will ich überhaupt machen? Kann ich überhaupt irgendetwas gut?

Ich wollte nach dem Abitur nach Frankreich, hatte drei Bewerbungsgespräche und bei allen drei Stellen wurde jemand anderes angenommen, in den letzten Tagen habe ich also Bewerbungsunterlagen für einen Studiengang zusammengekratzt, der gut klingt, aber noch nicht perfekt. Ich habe mich gefragt: Werde ich überhaupt jemals nach Frankreich kommen? Und ja, das werde ich.

Was ich an dieser Stelle gerne sagen würde: Keiner ist alleine mit diesem Gefühl der Unsicherheit, es geht uns allen so. Kein Lebensweg ist mit dem Lineal gezogen, wende dich für Bestätigung an einen Erwachsenen deines Vertrauens. Manchmal stehen wir vor dieser Bandbreite an Möglichkeiten, während sich keine von ihnen perfekt anfühlt. Trotzdem müssen wir anfangen, bevor wir wissen, wohin wir gehen. Etwas Neues auszuprobieren, um herauszufinden, dass es nicht das Richtige ist und was einem eigentlich fehlt, ist vollkommen okay.

Irgendwann habe ich erkannt: meine Unsicherheit ist ein Privileg. Unsere Unsicherheit bedeutet, dass wir die Freiheit haben, Entscheidungen treffen zu können und auf diese Weise unser Leben zu gestalten.

Wir sollten den Mut dazu haben, unsere Unsicherheit in den Arm zu nehmen und zu erkennen: unsere Unsicherheit ist ein Privileg, weil sie bedeutet, dass wir die Freiheit haben, Entscheidungen treffen zu müssen und auf diese Weise unser Leben zu gestalten, denn die Welt steht uns offen.

Wir werden unseren Weg finden. Das sage ich voller Zuversicht und voll Vertrauen. Ich bin überzeugt davon, dass jeder von uns ein erster Dominostein in einer langen Kette des Weltgeschehens sein kann, wenn wir den Mut dazu haben.

„So gib mir auch die Zeiten wieder,
Da ich noch selbst im Werden war. (V. 184. f.)“
Für diejenigen, die nur die Dr. Sommer to go Variante von Faust gesehen haben oder für Qiana, die am Tag vor ihrer mündlichen Deutschprüfung die Wikipedia-Artikel der Lektüren in Google-Übersetzer eingegeben hat, damit sie ihr vorgelesen werden, eine kurze Erklärung zu dem Zitat:

„So gib mir auch die Zeiten wieder,
Da ich noch selbst im Werden war. (V. 184. f.)“
In einem Prolog von Faust wird zwischen drei Personen diskutiert, wie Theater sein sollte.  Eine von ihnen, der Dichter, trauert in diesen Versen der Zeit nach, in der er noch am Werden war.

 

„Was willst du später mal werden?“
Diese Frage mussten wir alle in letzter Zeit wohl immer häufiger hören, weil jetzt die Zeit ist, in der wir selbst im Werden sind. Als ich klein war, wollte ich Schriftstellerin werden. Die Antwort von Vera damals war: „Rentnerin!“ Oder „So wie mein Papa!“.  Aus Feuerwehrfrau, Baggerfahrer, Präsidentin, Polizist wurde Steuerberater, Anwältin, Lehrer und „keine Ahnung – studieren?“
Aus Träumen sind ernste Lebenswege und kleine Lebensverzweiflungen geworden, lasst uns noch ein bisschen träumen, denn die Welt steht uns offen.

„Was willst du später mal werden?
Wir müssen nicht irgendwann geworden sein, aber es ist sehr schön im Werden zu sein.

Zu all den Unsicherheiten, ein kleines Gedicht von Goethe:
„Wenn dir’s in Kopf und Herzen schwirrt,
Was willst du Bessres haben!
Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt,
Der lasse sich begraben!

Mitnehmen, aus den letzten acht Jahren,  können wir Erinnerungen, gemeinsames Streiten und gemeinsames Lachen. Wir haben Goethe gefeiert, uns rebelliert, wir haben den Mut gehabt, etwas zu sagen und nun steht die Welt uns offen.

Jeder von uns kann stolz sein, auf die eigene Leistung, auf unsere Entwicklung, darauf, dass wir mit einem Abitur von dieser Schule gehen werden. Wir können stolz auf uns sein und auch Sie, liebe Lehrer*innen und liebe Eltern, auch Sie können stolz auf uns sein. Vielleicht lächeln Sie ein bisschen über mich und meine Rede, weil ich jung bin und glaube die Welt verändern zu können und zwar am besten gleich morgen. Aber dies ist die Zeit, in der wir noch im Werden sind.

Also, für alle, die gerade am Träumen sind und die Rede verpasst haben, ich habe drei Dinge zu sagen:

  1. Die Welt steht uns offen.
  2. Unsere Unsicherheit ist ein Privileg.
  3. Wir müssen nicht irgendwann geworden sein, aber es ist sehr schön im Werden zu sein.

Vielen Dank.

 

(Rede: Michelle Aibturientin 2020)