Stolpersteine

Als die Städtische Lateinschule 1520 gegründet wurde, geschah dies, um Frankfurter Bürgersöhnen unabhängig von kirchlichen Institutionen eine klassische Bildung vermitteln zu können. Wie urkundlich festgehalten wurde, übernahm Wilhelm Nesen, der als der erste Direktor gilt, die Aufgabe, sein Wissen in den alten Sprachen an die ihm anvertrauten Jungen weiterzugeben. Das Pergament mit der handschriftlichen Bekundung seiner Bereitschaft wird im Frankfurter Stadtarchiv aufbewahrt.

Über Jahrhunderte entwickelte sich diese erste Gründung zu einer Schule weiter, die ab etwa Mitte des 16. Jahrhunderts ein für über 300 Jahre bestehendes Gebäude im damaligen Barfüßerkloster an der heutigen Paulskirche bezog und ungefähr ab dem 17. Jahrhundert Gymnasium Francofurtanum genannt wurde.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde das bestehende Gebäude zu klein für die vielen Kinder, die die wachsende Stadt hervorbrachte. Zur selben Zeit diskutierte man in Preußen über die Zukunft der gymnasialen Bildung. Bei der Suche nach neuen, in die Zukunft weisenden Wegen tat sich Karl Paul Friedrich Reinhardt hervor, der schon ab 1886 das Städtische Gymnasium leitete. Er entwickelte die Frankfurter Stundentafel, in der neben Latein und Griechisch auch Französisch und sogar Englisch ihren Platz fanden. Als im Jahr 1897 aus dem Städtischen Gymnasium das Lessing- und das Goethe-Gymnasium hervorgingen und Lessing sich in der Tradition der ursprünglichen Schule als altsprachlich definierte, begann am Goethe-Gymnasium die Arbeit mit dem neuen Plan. Die Schule bezog ihr neues Gebäude in der Bahnstraße, der heutigen Friedrich-Ebert-Anlage, und entwickelte sich zu einer Einrichtung mit einem besonderen Reiz für die liberalen, aufgeklärten Frankfurter Familien.

1904 verließ Reinhardt Frankfurt, um 1920 erster Direktor der durch Kurt Hahn, einen weiteren bekannten Reformpädagogen, neu gegründeten Internatsschule in Salem am Bodensee zu werden. 1929 wurde Dr. Ernst Neustadt Direktor des Goethe-Gymnasiums und setzte die neue liberale Tradition fort.

 

Neustadt, 1883 in Berlin geboren, hatte sich als Altertumsforscher bereits einen Namen gemacht und war am Mommsen-Gymnasium in Berlin seit zwanzig Jahren als Lehrer tätig gewesen. Kurt Hahn war ein früherer Schulkamerad. Mit seiner Frau Gertrud Neustadt, geb. Stadthagen, blieb Neustadt mehrere Jahre in Frankfurt, bis ihm nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (1933) im Oktober 1933 seine Stelle als Schuldirektor entzogen und er, zum Studienrat degradiert, an das Lessing-Gymnasium abgeordnet wurde. Zum 31.12.1935 wurde er, wie alle jüdischen Beamten, pensioniertund musste um die Zahlung der ihm zustehenden Pension kämpfen.

Es ist bezeichnend, dass Dr. Neustadt bei der durch die Nazis angeordneten Inspektion durch Dr. Huth und Dr. Kern insbesondere wegen seiner „humanitären, demokratischen, kosmopolitischen und pazifistischen Einstellung“ auffiel und aufgrund dieser Eigenschaften als „ungeeignet für das völkisch-nationale Bildungssystem“ ausgesondert wurde. Für uns steht dieser ehemalige Schulleiter in einer Tradition, die wir am Goethe-Gymnasium pflegen wollen.

 

Dr. Neustadt versuchte nach den Novemberpogromen 1938 über seine akademischen Kontakte, einen Ausweg aus der offenbar lebensgefährlich gewordenen Situation in Frankfurt zu finden. Da weder er noch seine Frau Verwandte im Ausland hatten, war es für sie beide schwierig, z.B. in Großbritannien eine Einreisegenehmigung zu erhalten. Letztlich gelang es über die Beziehung zu Kurt Hahn, einen Kontakt zu der Gordonstoun School in Schottland herzustellen, die dem Ehepaar im Juli 1939 die Flucht ermöglichte. Neustadt wurde Lehrer an der schottischen Reformschule. Auf diese Weise war das Ehepaar finanziell unabhängig und konnte darüberhinaus die in Berlin verbliebene Mutter von Frau Neustadt, Frau Clara Stadthagen, finanziell unterstützen.

 

Es ist eine verbreitete Fehlannahme, dass diejenigen, die aus der nationalsozialistischen Gesellschaft flüchten konnten, es nun geschafft hätten. Dr. Neustadt, ein Pazifist und „getaufter Jude“, und seine jüdische Frau erlitten schon wenige Monate nach der Ankunft in Schottland den nächsten Schicksalsschlag. Beide wurden zu Beginn des Zeiten Weltkriegs als „enemy aliens“ interniert, denn aus den Gemeinden, die Flüchtlinge aufgenommen hatten, kamen Befürchtungen, diese Fremden seien doch eher ihrem Vaterland gegenüber loyal als dem gastgebenden Land. In der bestehenden Kriegssituation wurden sie als mögliches Risiko beargwöhnt. In der Folge befand Dr. Neustadt sich für mehr als sechs Monate in einem Lager auf der Isle of Man, wo er sich im Kreise weiterer deutschsprachiger Intellektueller aufhielt. Im August des Folgejahres wurde er entlassen, weil er als ein besonderer Härtefall galt. Nach Gordonstoun ist er wohl nie zurückgekehrt, und für etwa ein Jahr gibt es fast keine Dokumente über seinen Aufenthaltsort oder seine Lebensverhältnisse. Es existiert jedoch eine Nachricht, die über das Rote Kreuz an Frau Stadthagen geleitet wurde, die noch in Berlin lebte und finanziell vollständig abhängig von den Geldsendungen aus Schottland war. Daraus ist zu erfahren, dass nun auch Dr. Neustadt und seine Frau mittellos und nicht mehr imstande waren, die alte Dame zu unterhalten. Sie starb völlig verarmt am 22.10.1941, kurz nach Beginn der Massendeportationen in die Vernichtungslager.

Im September 1941 hatte Neustadt begonnen, als Lehrer auf Probe an der Wakefield Grammar School zu unterrichten. Dort fand er jedoch keine Heimat mehr. Damalige Schüler berichteten später von einem unglücklichen und über seine Situation verbitterten Mann. Am 20.03.1942 starb Frau Gertrud Neustadt. Kurz danach verlor Dr. Neustadt seine Stelle an der Wakefield Grammar School. Er beging am 25.04.1942 Suizid in seiner Wohnung in Wakefield. Man kann annehmen, dass ihm nach dem Verlust von allem, das ihm in seinem Leben Halt gegeben hatte, keine Zukunft mehr möglich schien.

 

Wir, die Schulgemeinde des Goethe-Gymnasiums, möchten an Dr. Neustadt und seine Frau Gertrud Neustadt mit der Verlegung zweier Stolpersteine vor unserem Schulgebäude erinnern. Damit wollen wir auch dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wach bleibt, damit sich diese Geschichte nicht wiederholt.

 

Am Donnerstag, 22.10.2020 um 10.00 Uhr wird Gunter Demnig vor dem Schulgebäude in der Friedrich-Ebert-Anlage die Stolpersteine für Frau Gertrud Neustadt und Herrn Dr. Ernst Neustadt verlegen.

 

Unter folgendem Link gibt es einen Blog Post von Charlie Knight M.A. (History), der im Rahmen seiner Magisterarbeit an der University of Exeter unter anderem über Dr. Neustadt geforscht und viele Materialien aus verschiedenen Archiven in Großbritannien zusammengetragen hat:

 

https://britishassociationforholocauststudies.wordpress.com/2020/06/20/dr-ernst-neustadt-researching-a-stolperstein/

 

Sabine Endel